Tagebuch eines Programmierers



Liebes Tagebuch!

10. Januar

Ja, die Zeiten sind hart. Doch für mich nicht mehr. Unsere
Firma hat den Auftrag ergattert, und mein Job ist wieder sicher.
Ich soll mit Klaus ein Team bilden. Ausgerechnet dieser Kindskopf!
Holt sich Spiele vom Internet, als ob wir dafür jetzt Zeit hätten.

14. Januar

Ich habe Klaus beim Spielen im Büro erwischt. Und was der
spielte: lief durch ein Labyrinth und schlachtete monster und
Mutanten ab widerlich! Das sei der Renner und habe als
kostenlose Beta- Version bereits alle kommerziellen
Spielprogramme in den Hitparaden überholt. Wie kann man sich
mit so etwas beschäftigen? Ich habe es mir kopiert, um den Mist
mal genauer anzusehen.  Die Grafik ist ja wirklich eindrucksvoll.

16. Januar

Anna kam dazu, wie ich das widerliche Spiel ausprobiert habe.
Sie war entsetzt.  Ich habe ihr erklärt, daß ich nur wissen
will, was Klaus daran findet. Wir sind uns einig, so ein
brutaler Quatsch müßte verboten werden. Ihr fehlt jedoch das
Verständnis für die tolle Programierleistung. Die Entwickler
sollten zu IBM wechseln und die Workplace Shell auf Trab
bringen. Während ich noch ein wenig nach dem letzten Geheimnis
im zweiten Level suchte, widmete sich Anna einem blutrünstigen
Thriller im Fernsehen.

31. Januar

Klaus unterstellt, ich könne nicht mehr aufhören zu spielen.
Ich habe ihm das Gegenteil bewiesen und sofort aufgehört, als
der Chef hereinkam.  Der ist der einzige in der Firma, der noch
nicht spielt, noch nicht einmal in den Pausen. Daheim übe ich
nur noch, die großen Schlachten finden im Büro statt. Man kann
mit drei weiteren Kollegen im Netzwerk gemeinsam oder
gegeneinander spielen - Killen für Workgroups.

13. Februar

Heute habe ich etwas fürs Leben gelernt: man sollte niemals eine
Rakete auf einen Gegner abfeuern, der direkt vor einem steht.
Anna hält nichts von solchen Weisheiten; sie hätte mich lieber
vor dem Einschlafen im Bett. Dabei stelle ich nachts die Sound
Blaster extra leise, damit die Kinder nicht vom Kreischen der
Kettensäge aufwachen.

2. März

Der Chef tobt.  Die ganze Abteilung hängt morgens lethargisch
vor den Rechnern. Er hatte das Spiel verboten. Aber dann hat
Klaus die Shareware- Version aufgetrieben. Neue Episoden halten
das ganze Büro in Atem. Obwohl noch ein paar Programmierer
eingestellt wurden, liegen wir weit hinter dem Zeitplan zurück.
Der Auftrag droht zu platzen.

17. Mai

Ich bin arbeitslos. Anna ist sauer. Sie hat die Rechnung für
die Vollversion gefunden. Sie arbeitet jetzt wieder. So können
Klaus und ich tagsüber ungestört spielen. Er hat seinen
Computer hier aufgebaut, weil seine Frau droht, sich scheiden zu
lassen, falls sie ihn noch einmal beim Spielen erwischt. Keiner
versteht uns.  Doch wir gehören einer großen Gemeinschaft an;
die Vollversion wurde bereits häufiger verkauft als Windows.


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